Im Gespräch mit … Birger Hartnuß


Seit 2007 ist der Diplom-Pädagoge Birger Hartnuß in der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz tätig. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören der Ausbau der Engagementförderung sowie der Bürgerbeteiligung in Rheinland-Pfalz. Mit ihm sprachen wir unter anderem über den landesweiten Demokratie-Tag und das Bündnis „Demokratie gewinnt!“.


Interview: Hans Berkessel | Januar 2021

Zur Person
Dipl.-Päd. Birger Hartnuß ist Leiter der Leitstelle Ehrenamt und Bürgerbeteiligung in der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz. Er arbeitete nach dem Studium der Erziehungswissenschaften mehrere Jahre in Forschungsprojekten zur Kooperation von Jugendhilfe und Schule an den Universitäten Halle/S. und Greifswald. Er war Mitarbeiter im Sekretariat der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ des 14. Deutschen Bundestags (2000–2002) und im Anschluss daran wissenschaftlicher Referent sowie stellvertretender Geschäftsführer des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement (BBE). Seit 2007 ist er in der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz tätig. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören der Ausbau von Engagementförderung und Bürgerbeteiligung in Rheinland-Pfalz und der Bundesrepublik. Er ist Mitglied des Sprecher*innenrats des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement sowie Mitglied mehrerer Beiräte. Neben seiner politischen Tätigkeit befasst sich Birger Hartnuß auch wissenschaftlich mit den Themen Engagementförderung und Engagementpolitik und beteiligt sich intensiv an der gesellschaftlichen Debatte über das bürgerschaftliche Engagement.



Anlässlich des 12. Demokratie-Tags Rheinland-Pfalz wurde im November 2017 unter der Schirmherrschaft von Ministerpräsidentin Malu Dreyer das Bündnis „Demokratie gewinnt!“ ins Leben gerufen. Wie kam diese Initiative zustande und welche Ziele verbanden sich damit?

Rheinland-Pfalz beteiligte sich Anfang der 2000er-Jahre sehr engagiert am Bund-Länder-Kommissions-Programm „Demokratie lernen & leben“. Dabei wurden in und an Schulen neue Wege beschritten, um die Schule als wichtigen Lern- und Lebensort junger Menschen demokratischer zu gestalten. Nach Auslaufen des Programms wurden diese wichtigen Erfahrungen nicht ad acta gelegt. Es entstanden schulische Netzwerke, es gab Unterstützungsstrukturen und mit dem erstmals 2006 veranstalteten landesweiten Demokratie-Tag ein Forum zur Weiterentwicklung und Festigung des Erreichten.
Obwohl von Beginn an auch außerschulische Kooperationen und Partnerschaften immer im Blick waren, war der Demokratie-Tag zunächst doch eher eine schulische Fachveranstaltung. Dies änderte sich jedoch rasch. Das Spektrum der Themen, der aktiven und einbezogenen Akteure wie auch der Perspektiven wuchs von Jahr zu Jahr. So entwickelte sich der Tag im Laufe der Jahre zu dem vielleicht wichtigsten Forum für die Partizipation und das Engagement junger Menschen in Schulen, der außerschulischen Bildung, in unseren Kommunen und auf Landesebene.
Damit verbunden änderten sich auch Format und Charakter des Demokratie-Tags. Es gelang, den Anschluss an die politischen Debatten zur Demokratieentwicklung im Land zu finden. Der Demokratie-Tag 2012 im Landtag, in enger Zusammenarbeit mit der Enquete-Kommission „Aktive Bürgerbeteiligung für eine starke Demokratie“, war hierfür ganz entscheidend. Als Messe für Demokratie und Beteiligung versammelt der Tag seither alle relevanten Organisationen und Akteure, die in den unterschiedlichsten Feldern der Demokratiebildung aktiv sind. Und der Tag ist inzwischen ein fester Termin in den Kalendern der politischen Spitzen, die regelmäßig zu Gast sind.
Als Schirmherrin kommt der Ministerpräsidentin hierbei natürlich eine zentrale Rolle zu. Sie gab im Jahr 2017 auch den entscheidenden Impuls zur Gründung des Bündnisses „Demokratie gewinnt!“. Damit ist es gelungen, das stetig wachsende Netzwerk aus staatlichen, zivilgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Partnern rund um den Demokratie-Tag zu festigen und ihm einen Rahmen zu geben, der die Zusammenarbeit auch jenseits der einmal im Jahr stattfindenden Großveranstaltung fördert. Die Gründung des Bündnisses war zugleich ein starkes, öffentlich sichtbares Signal gegen wachsenden Populismus, gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Extremismus und Gewalt. Demokratiebildung ist hierfür ein wichtiges Anliegen. Gemeinsam geht es im Bündnis darum, junge Menschen frühzeitig an Engagement, Partizipation und die Grundwerte unserer Demokratie heranzuführen und die Institutionen unseres Bildungs- und Erziehungssystems selbst demokratisch zu gestalten. Demokratie lernen und Demokratie leben, darum geht es im Bündnis.


Wie erklären Sie sich die bundesweit einmalige Breite und Vielfalt dieses Bündnisses aus inzwischen über 60 staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen? Welche Wirkungen kann es entfalten?

Das Bündnis kommt nicht aus der Retorte. Es ist im und durch den Demokratie-Tag gewachsen. In diesem gewachsenen und weiterwachsenden Netzwerk liegt seine besondere Stärke. Netzwerke basieren auf gemeinsamen Zielen und Überzeugungen, auf Vertrauen und dem Willen, gemeinsam etwas zu verändern. So etwas kann man nicht erzwingen. Durch den Demokratie-Tag gibt es Erfahrungen, Erfolge und erprobte Kooperationen. Das haben wir anderen neu gegründeten Bündnissen in anderen Ländern voraus. Und das erklärt sicherlich auch die Attraktivität einer Mitwirkung. Denn es gab ganz bewusst keine Werbekampagne. Die Mitglieder kommen aus eigenem Antrieb, aus dem Wunsch, sich einer wachsenden Bewegung anzuschließen, ihre Erfahrungen und Stärken in das Bündnis einzubringen und aus der Zusammenarbeit mit anderen, Synergien und Stärken für sich zu gewinnen.
Ganz wesentlich ist hierbei auch, dass im Bündnis ganz unterschiedliche gesellschaftliche Sphären und Akteure an einem Strang ziehen: Staat und Politik, Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Land und Kommunen, Kirchen und Religionsgemeinschaft. Voneinander lernen, sich ergänzen und gemeinsam das Notwendige tun, das macht dieses Bündnis so besonders. So können gesellschaftliche Veränderungen gelingen.


Wie gestalten sich die Treffen und Arbeitssitzungen des Bündnisses und welche Ergebnisse lassen sich exemplarisch festhalten?

Das Bündnis trifft sich in der Regel einmal im Jahr mit der Schirmherrin, Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Daneben gibt es eine Reihe von thematischen Arbeitsgruppen, die regelmäßig zusammenkommen und ihre jeweiligen Vorhaben abstimmen. Und natürlich ist der jährliche Demokratie-Tag das Forum, bei dem das Bündnis mit seinen vielfältigen Aktivitäten und Partnern öffentlich sichtbar wird.

Aus dem Bündnis heraus wurden bereits eine ganze Reihe neuer und wichtiger Projekte angestoßen. Hierzu zählen beispielsweise die stärkere Verankerung der Demokratieerziehung in der Lehrerbildung, Projekte der Demokratiebildung in Medien und Medienpädagogik und Angebote der Demokratiebildung für Jugendliche in schwierigen Übergangsphasen (beispielsweise Jugendliche im Berufsvorbereitungsjahr an den berufsbildenden Schulen).

Im Bereich der Schulen haben wir schon im letzten Jahr wichtige Weichenstellungen vorgenommen. Bildungsministerin Dr. Stefanie Hubig hat in ihrer Regierungserklärung „Demokratie macht Schule: Rheinland-Pfalz stärkt Demokratiebildung, Erinnerungskultur und europäisches Miteinander“ deutlich gemacht, welchen Stellenwert eine aktive Erinnerungskultur, die Demokratiebildung und ein geeintes Europa für eine moderne, gute Bildung haben.
Mit einem konkreten Maßnahmenpaket werden diese drei Bereiche besonders gefördert. Denn sie sind jetzt und in Zukunft untrennbar mit einer funktionierenden Demokratie verbunden. Sie sollen daher noch stärker an den Schulen in Rheinland-Pfalz wirken. Hierfür stellt die Landesregierung mehr als vier Millionen Euro zur Verfügung.

Auch für die Arbeit unseres Bündnisses braucht es Ressourcen und gute Strukturen. Dafür haben wir im letzten Jahr die Grundlagen geschaffen. Gemeinsam haben Staatskanzlei, Landtag, Bildungs-, Jugend-, Weiterbildungs- und Innenministerium, die Stadt und das Weiterbildungszentrum Ingelheim sowie die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik Geld und Ressourcen in die Hand genommen, um eine Geschäftsstelle einzurichten, die den Demokratie-Tag Rheinland-Pfalz organisiert und die Arbeit des Bündnisses „Demokratie gewinnt!“ begleitet. Das war ein ganz wichtiger Schritt für die weitere Arbeit im Bündnis.


Was ist die Rolle der Ministerpräsidentin und der Staatskanzlei und welche Bedeutung haben die Medien im Bündnis?

Die Schirmherrschaft der Ministerpräsidentin und die Koordinierung durch die Staatskanzlei zeugen davon, dass die Anliegen des Bündnisses hohe Priorität in der Landesregierung haben. Natürlich ist diese hochrangige Anbindung auch hilfreich, um den Aktivitäten Gehör und Sichtbarkeit zu verschaffen. Die operative Koordinierung wurde der Geschäftsstelle übertragen. Die politische Steuerung des Bündnisses bleibt aber Aufgabe der Staatskanzlei.

Es ist erfreulich und extrem wichtig, dass sich auch die Medien im Bündnis engagieren. Mit dem ZDF und dem SWR gibt es schon eine langjährige Zusammenarbeit. Weitere Medien wie RPR1, aber auch die Offenen Kanäle gehören inzwischen ebenso dazu. Sie sind einerseits wichtige Partner, um die Themen des Netzwerks zu transportieren. Andererseits stehen auch sie vor der Herausforderung, als Teil unseres demokratischen Gemeinwesens neue Wege für die Gestaltung ihrer Kernaufgaben zu gehen. Im Bündnis können Sie dafür Anregungen, Impulse und Partner finden.


Wie sehen Sie die aktuelle und künftige Bedeutung der Kommunen als Mitglieder im Bündnis?

Die Kommunen sind der wichtigste Ort für bürgerschaftliches Engagement, für aktives Mittun und Mitentscheiden. Daher ist es besonders wichtig, gerade hier möglichst günstige Bedingungen für eine aktive Bürgergesellschaft zu schaffen. Politik und Verwaltung stehen hierbei vor großen Herausforderungen. Eine Reihe besonders engagierter Kommunen hat sich bereits unserem Bündnis angeschlossen. Ich bin davon überzeugt, dass es schon bald mehr werden. Denn es ist inzwischen vielen Entscheidungsträgern bewusst, dass keine der großen gesellschaftlichen Herausforderungen, vor denen wir stehen, ohne das Engagement und die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger bewältigt werden kann. Das wurde 2015/2016 im Zuge der vielen zu uns geflüchteten Menschen sichtbar. Auch aktuell in der Corona-Pandemie ist klar, dass es ohne engagierte Bürgerinnen und Bürger nicht geht. Dafür braucht es aber gute Rahmenbedingungen und kluge Arrangements vor Ort, um das Miteinander von Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft zu ermöglichen.

Rheinland-Pfalz beteiligt sich seit Kurzem an dem Bundesprogramm „Engagierte Stadt“, in dem Kommunen bundesweit mutige Wege in diese Richtung gehen. Fünf Kommunen aus dem Land sind inzwischen dabei, weitere werden folgen. Einige von ihnen haben dabei die demokratiefördernden Aspekte in den Mittelpunkt ihre Arbeit gestellt. Sie sind, wie bspw. Neustadt an der Weinstraße oder Ingelheim, auch Mitglied in unserem Bündnis.


Welche Aufgaben und Perspektiven – auch unter den durch die Corona-Pandemie veränderten ökonomisch-politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – sehen Sie künftig für das Bündnis?

Zunächst einmal bleiben die Kernanliegen des Bündnisses, nämlich junge Menschen frühzeitig an Demokratie, Beteiligung und bürgerschaftliches Engagement heranzuführen, weiterhin auf der Agenda. Hier gibt es noch viel zu tun. Und uns allen muss klar sein, dass dies auch kein zeitlich befristetes Projekt ist, das man nach einem formalen Abschluss beenden könnte. Demokratieförderung bleibt eine Daueraufgabe, und das Bündnis wird sich dabei den verändernden Bedingungen stellen und neue Antworten auf diese Fragen geben müssen.

Darüber hinaus aber glaube ich, dass die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre und die damit verbundenen Gefahren für unsere Demokratie noch stärker als bisher in den Mittelpunkt der Bündnisarbeit rücken werden. Das, was auch öffentlich als Spaltung der Gesellschaft beschrieben wird, ist doch eine ganz entscheidende Frage an die Demokratie. Warum fühlt sich ein erheblicher Teil der Bürgerinnen und Bürger nicht oder nicht angemessen von unserem demokratischen System vertreten und kehrt sich von ihm ab? Warum gelingt es nicht, sie zu erreichen, einzubinden, mit ihnen in den Diskurs zu treten und gemeinsam Lösungen für Konflikte und Probleme zu finden? Warum sind für sie die scheinbar einfachen Lösungen so attraktiv?
Auf diese Fragen brauchen wir neue Antworten. Demokratie muss sich weiterentwickeln und wird neue Wege gehen müssen. Das Bündnis kann hierfür ein guter Thinktank sein. Von einem aber bin ich dabei überzeugt: Die Antwort auf die aktuellen Herausforderungen an die Demokratie ist nicht weniger, sondern kann nur mehr Demokratie sein.


Sie haben kürzlich ein Buch über „Bürgerschaftliches Engagement und Soziale Arbeit“ veröffentlicht. Wie sehen Sie die Bedeutung von demokratischer Partizipation und zivilgesellschaftlichem Engagement in den Studiengängen von Lehrer*innen und Sozialpädagog*innen?

Ich bewege mich seit inzwischen rund 20 Jahren im Feld der Engagementpolitik. Eine der wichtigsten Erkenntnisse in dieser Zeit ist, dass Engagement und politische Beteiligung nicht vom Himmel fallen. Bürgerschaftliches Engagement wird gelernt, man muss es erproben können und dafür braucht es geeignete Erfahrungsräume. Gleichzeitig finden im ehrenamtlichen und freiwilligen Engagement ganz wichtige informelle Lernprozesse statt, die für die Bildung junger Menschen sehr wichtig sind. Deshalb gibt es schon lange die politische Forderung, Anliegen der Engagement- und Partizipationsförderung stärker in den Bildungs- und Erziehungseinrichtungen zu verankern. Dafür wiederum benötigen die pädagogischen Profis das notwendige Wissen und methodische Rüstzeug. Schaut man sich die einschlägigen Curricula an, dann muss man leider feststellen, dass Zivilgesellschaft, bürgerschaftliches Engagement und Beteiligungsförderung weitgehend Fehlstellen in den Ausbildungsgängen sind. Das gilt für die Lehrerausbildung ebenso wie für die Studiengänge der Sozialen Arbeit.
Als ich vor einigen Jahren von einer Hochschule in Bremen angesprochen wurde, um ein Studienkonzept „Bürgerschaftliches Engagement“ für die Soziale Arbeit zu entwickeln, war dies für mich eine Möglichkeit, diese alte Forderung praktisch umzusetzen. Ich bin dort inzwischen nebenberuflich Lehrbeauftragter und gebe zwei Mal im Jahr Blockseminare zum Thema Zivilgesellschaft. Das Anliegen ist dort jetzt curricular verankert. Der angesprochene Band basiert auf dem von mir hierfür entwickelten Studienheft.


Hartnuß, Birger: Bürgerschaftliches Engagement und Soziale Arbeit. Ein Studienbuch für die Praxis, APOLLON University Press, Bremen 2019.

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