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Forschungsprojekt: Die Tagebücher des Bernhard Cahn – gesellschaftlicher Wandel, jüdische Emanzipation und Alltagsleben im Großherzogtum Hessen in der nach-napoleonischen Ära im Spiegel der Aufzeichnungen eines jüdischen Lehrers und Vorsängers

Seite aus dem Cahn'schen Tagebuch

Leitung: Prof. Dr. Franz J. Felten / Bearbeitung: Dr. Hedwig Brüchert und Peri Johanna Terbuyken

Bei den Tagebüchern des Bernhard Cahn handelt es sich um eine höchst bemerkenswerte und aussagekräftige autobiographische Quelle zur Geschichte der Juden im Raum Mainz im 19. Jahrhundert und zur Sozial- und Alltagsgeschichte allgemein. Die Aufzeichnungen umfassen die Jahre von 1817 bis 1871, einen Zeitraum also, in dem sich ein starker politischer, wirtschaftlicher und sozialer Wandel in der deutschen Gesellschaft insgesamt und im Großherzogtum Hessen abgespielt hat.

Bernhard Cahn (1793-1877) war ein aus dem Elsass stammender Jude, der in der väterlichen und der mütterlichen Linie aus traditionsreichen Rabbinerfamilien abstammte. Er wurde in den Napoleonischen Kriegen rekrutiert und kam beim Rückzug der französischen Armee 1813 nach Mainz. Er erhielt die Stelle eines Lehrers und Vorsängers in der Jüdischen Gemeinde in Kastel (heute: Mainz-Kastel), einer damals selbständigen Gemeinde auf der rechten Rheinseite. Bernhard Cahn begann in dieser Zeit Tagebuch zu schreiben. Im Laufe seines Lebens füllte er rund 3.800 Seiten. Die Tagebücher wurden durch Nachkommen seiner Familie bei der erzwungenen Emigration nach 1933 in die USA mitgenommen und unserem Institut vor kurzem zur wissenschaftlichen Auswertung zur Verfügung gestellt.

Die Aufzeichnungen setzen 1817 ein und enden 1871, wobei sie ab dem Jahr 1847 immer dichter und umfangreicher werden. Bernhard Cahn machte Eintragungen über das Alltags­leben, über Getreidepreise und Hungersnöte, über das Leben und die Gebräuche in den jüdischen Gemeinden in Kastel und Mainz, über interessante Geschehnisse und Personen in der Stadt Mainz und im Großherzogtum Hessen ebenso wie über wichtige überregionale Ereignisse. In seine Zeit fielen z.B. die Revolution von 1848 und der deutsch-französische Krieg von 1870/71, ebenso technische Erfindungen und Neuerungen, die den gesamten Alltag der Menschen auf Dauer veränderten, wie die Dampfmaschine, die Eisenbahn und die Dampfschifffahrt. Gleichzeitig vollzog sich nach dem Ende des "Alten Reiches" ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel. Die Tagebücher stellen damit eine ganz seltene und außerordentlich bedeutende Quelle zur Geschichte der Juden im Großherzogtum Hessen und zu ihrer Emanzipation in der nach-napoleonischen Ära, ebenso zur allgemeinen Geschichte und zur Alltagsgeschichte des 19. Jahrhunderts dar. Darüber hinaus besitzen die Tagebücher einen hohen Wert als Quelle für sprachgeschichtliche Forschungen. Bernhard Cahn schrieb seine Tagebücher in deutscher Sprache nieder, benutzte dazu jedoch hebräische Schrift.

Ziel unseres Projektes ist es, diese einmalige Quelle auszuwerten und neue Erkenntnisse zur Geschichte der Region an Rhein und Main in einer gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umbruchsepoche im 19. Jahrhundert zu gewinnen. Dies wollen wir dadurch erreichen, dass die Tagebücher, die in hebräischer Kurrentschrift verfasst sind, zunächst in lateinische Schrift transkribiert werden. Dies ist angesichts des Umfangs der Quelle ein sehr zeitaufwendiger Projektabschnitt. Parallel zur Transliteration des Textes soll ein Glossar mit heute ungebräuchlichen Ausdrücken, mit benutzten Dialektbegriffen sowie mit Erläuterungen zu den jüdischen Feiertagen, zum jüdischen Kalender und zu hebräischen Fachbegriffen angelegt werden. Im nächsten Schritt soll der Text dann unter verschiedenen Gesichtspunkten ausgewertet und in die Geschichte der Stadt Mainz und des Großherzogtums Hessen sowie die deutsch-jüdische Geschichte des 19. Jahrhunderts eingeordnet und kommentiert werden. Es ist geplant, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Auswertung zusammen mit dem möglichst vollständigen, originalgetreu transkribierten Text der Tagebücher, dem Glossar sowie einem Orts-, Personen- und Sachregister in der Publikationsreihe "Geschichtliche Landeskunde" unseres Instituts zu veröffentlichen.

Schon heute, nach den ersten Vorarbeiten und einer auszugsweisen Transkription der Tagebücher, lässt sich sagen, dass mit diesen Aufzeichnungen eine in ihrer Art einmalige Quelle erschlossen und erstmals öffentlich zugänglich gemacht werden kann. Sie ermöglicht zahlreiche neue, authentische Einblicke in das Alltagsleben und die täglichen Existenzsorgen der Menschen in unserer Region im 19. Jahrhundert über einen Zeitraum von mehr als fünf Jahrzehnten hinweg. Ebenso liefert der Text erstmals auch detaillierte Informationen (aus der Sicht eines unmittelbar beteiligten Juden) über die Auseinandersetzungen innerhalb der Mainzer jüdischen Gemeinde in der Phase des Richtungsstreits zwischen einer reformierten und einer orthodoxen Glaubensgemeinschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts, der schließlich zum Bau von zwei getrennten Synagogen führte. Darüber hinaus vermittelt der Text wichtige Einblicke in das Zusammenleben von Juden und Christen in jenen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, als die jüdische Bevölkerung am Rhein sich allmählich in das deutsche Bürgertum integrierte. Insofern sind diese Tagebücher auch wichtige Zeugnisse für die Veränderungen der Mentalität und des Weltbildes der Gesellschaft in jener Epoche, die auf die jüdische Emanzipation unter Napoleon folgte und in das Zeitalter der Industrialisierung mit einem selbstbewussten Bürgertum als führender Gesellschaftsschicht überleitete.